Wagon Slovakia

 

Jeden Abend fährt ein Speisewagen von Wien nach Bratislava. Bis ich ihn entdeckt habe, sind Jahre vergangen, denn dieses rollende Kleinod ist an einen unnützen Zug gehängt. 21:50 Wien Westbahnhof, 23:32 Bratislava Hauptbahnhof: Wer bei Trost ist, meidet diese umständlichste aller Verbindungen. Es ist beinahe ein Geisterzug.

Der Speisewagen wird von einem Unternehmen betrieben, das mir seit jeher Rätsel aufgibt. In der reibungslos brummenden slowakischen Volkswirtschaft nimmt „Wagon Slovakia“ die Stellung einer wunderlichen Ausnahme ein: Cola wird warm und Rotwein kalt serviert, und die ganze Energie des Personals geht in die wortreiche Verteidigung, nie in die Behebung der zahlreichen Unzulänglichkeiten. Dafür existiert in ganz Europa kein Speisewagen, der billiger wäre.

Dass Wagon Slovakia Wien-Bratislava betreut, hat mich begeistert. Ich bin gleich drei Mal mitgefahren.

Das erste Mal geriet ich an einem untypischen Abend hinein, an einem Feiertag. Ich kaufte mir Rotwein, setzte mich in eine der halbrund gepolsterten Sitzecken und suchte das Stifterl mit der Wärme meiner Hände auf Trinktemperatur zu bringen. Ich war der einzige Gast. Der grauhaarige Koch-Kellner saß gelangweilt herum. Vor ihm lag ein Stapel demnächst überholter Fahrpläne. Die Melancholie des Abends fand ihren stärksten Ausdruck darin, dass sich der Koch-Kellner einen Fahrplan nahm, einen Papierflieger bastelte und dann doch das Pflichtgefühl wahrte, ihn nicht abzuschießen.

Das zweite Mal war mehr los. Eine Runde slowakischer Roma trank maßvoll in der Mitte des Wagens. An der gegenüberliegenden Fensterfront, auf einem der sechs Barhocker, saß ein junger oberösterreichischer Eisenbahner, der in seine Dienstwohnung unterwegs war. Versonnen lächelnd betrachtete er die fröhliche Gesellschaft. Mit der Erfahrung des Vielfahrers brachte er zwei Bier bis Bruck an der Leitha unter. Dort stieg er aus. Am Bahnhof Petrzalka verschwanden auch die Roma.

Ab diesem Zeitpunkt versuchte mich der blonde Koch-Kellner diskret aus dem Waggon zu kriegen, aber ich verstand seine Signale nicht. Schließlich zeigte er mir seine kleine Schaumstoff-Matratze und erklärte, dass er schon um fünf wieder aus den Federn muss. Er musste auf dem Boden des Speisewagens schlafen. Beschämt verzog ich mich in den nächsten, vollkommen leeren Sitzwaggon.

Auf meiner dritten Fahrt hat mir Wagon Slovakia das ganze Programm gespielt. Genau dieselbe Kundschaft war versammelt, auf ge¬nau denselben Plätzen. Der Eisenbahner hatte sich schon sein erstes Gute-Nacht-Bier geholt, die Roma tranken Sekt, und wir betrachteten sie versonnen lächelnd.

Das Personal war diesmal doppelt vertreten, nur war der Grauhaarige besserer Laune, und der Kellner hatte bereits einen sitzen. Auf dem Chips-Wägelchen stand sein kleiner Kassettenrekorder, aus dem „Bódi Gusztí“ dröhnte, eine rasante ungarische Roma-Combo. Der Kellner hatte das Hemd weit aufgerissen und geriet in solche Verzückung, dass er - ein Vollslowake! - den jüngsten Rom abküsste, auf die Wange, auf den Mund.

Uns hats allen in den Sohlen gejuckt. Die Roma traten in Wien als Straßenmusikanten auf, und sie gaben mir und dem Eisenbahner ein Saftglas Sekt aus. „Das letzte Mal waren Sie ein Fremdkörper“, sagte der Eisenbahner zu mir, bevor er ins stille Bruck an der Leitha musste. Er hatte Recht. Wie die Roma verließ ich in Petrzalka den Speisewagen. Ich kenne jetzt den Hausbrauch.

Seither zwinge ich mich, nicht mehr mitzufahren, und rate jedem davon ab. Wagon Slovakia im Intercity 407 ist ein fixes Ensemble. Und wir - wir gehören nicht dazu.